Weitere Erklärungsmöglichkeiten lassen sich aus einem Vortrag der Kunsthistorikerin Dr. Karin Gille-Linne und der Architektin Sandra Juwig ziehen mit dem vielsagenden Titel: „Wie der Narwal nach Hann.Münden kam“. Aber auch sie fanden keine stichhaltigen Beweise:
„Narwalzähne wurden international seit Hunderten von Jahren gehandelt. Sie waren äußerst selten und daher sehr wertvoll. Bis zum späten 15. Jahrhundert sollen in Europa nur 20 ganze Zähne bekannt gewesen sein. Das sagenhafte Horn des Einhorns war so wertvoll, dass Königin Elisabeth 1. von England im 16. Jahrhundert 10.000 Pfund für eines gezahlt hat – so viel, wie für ein ganzes Schloss. Es gab Szepter aus Narwalzahn (England, Österreich…), Bischöfsstäbe und in Dänemark wurde sogar ein königlicher Krönungsstuhl aus Narwalzähnen gestaltet.“
Narwal: als Schutzsymbol
„Der Wal hat in der Seefahrt eine besondere Stellung. Der große und mächtige Walfisch war bedrohlich, aber zugleich war er auch ein Schutzsymbol. Auf hoher See bot er Schutz vor Sturm und Unwettern.
In Münden, einer Stadt mit drei angrenzenden Flüssen, waren Unwetter gefürchtet. Die Gefahr des Hochwassers war schließlich allgegenwärtig. Wurde der Narwal also als der mächtige, magische Walfisch angesehen, der die Häuser vor Unwettern und Hochwasser schützen konnte? Hatte er die Macht über das Element Wasser?
Oder gibt es noch andere Erklärungen? Denn das Wasser war ja nicht nur eine Gefahr, sondern gleichzeitig auch der wichtigste Verbündete gegen ein anderes gefährliches Element: das Feuer. Und der Wal, als Gewittertier, konnte sowohl Unheil bringen, als auch vor Blitz und Donner schützen. Die Angst vor Feuer war in dieser Fachwerkstadt mindestens so gegenwärtig wie die Angst vor dem Hochwasser. Das brachte uns auf die Idee, dass der Narwal die Häuser vor Feuer schützen sollte.“
Narwal: nur eine Marotte von Zimmerern?
„Der Narwal und das Meereseinhorn tauchen in Hann. Münden an 17 erhaltenen Fachwerkhäusern auf – allein oder in Kombination mit anderen Motiven. Es gibt 3 Häuser ohne Narwale, die aber mit ihren Walen, Drachen und Seeschlangen in die gleiche Motivfamilie gehören. Dazu gibt es 5 Häuser mit Ornamenten, die an S-förmige oder verschlungene Tierkörper erinnern. Alles in allem sind das 25 Häuser im heutigen Hann. Münden, an denen sich Narwale oder Wale tummeln – oder walähnliche Ornamente.
Diese 25 erhaltenen Häuser sind – soweit das nachvollziehbar ist – in einer Periode von etwa 20 Jahren entstanden, etwa von 1655 bis 1675.“
„Die Mündener Meereseinhörner von 1655 scheinen die frühesten zu sein. Nach 1675 ist wiederum aus Münden kein Haus mit Narwalschnitzerei erhalten. Dafür taucht der Narwal nun in Hardegsen auf, ab 1679, gibt es eine Vielzahl von Häusern, die mehr oder weniger deutlich das Motiv weiterführen.“
„1678, gut 20 Jahre nachdem in Münden der erste Narwal geschnitzt wurde, gab es in Hardegsen ein dramatisches Ereignis. Ein Brand brach aus und zerstörte 1678 fast alle Fachwerkhäuser der Stadt. Als das Feuer verloschen war, begann unverzüglich der Wiederaufbau der Stadt. Und das hieß: es gab viel Arbeit für die Zimmerleute und Schnittker (Zimmerleute, die sich auf das Schnitzen von Schmuckformen spezialisiert haben) aus der nahen und fernen Umgebung.
Auch die Schnittker von Hann. Münden zogen wohl nach Hardegsen, um dort zu arbeiten. Nach 1678 wurde in Münden kein einziges Haus mehr mit Narwalschnitzereien erbaut.
Dieses Motiv verschwand aus Münden, aber die Schnittker nahmen es mit nach Hardegsen und brachten es an vielen Fassaden in Hardegsen an.“
Volkskundler und Bauhistoriker Dr. Heinrich Stiewe:
„Warum gerade in Hann. Münden und anderen südniedersächsischen Städten neben anderen Fabeltieren auch stilisierte Narwale an Fachwerkhäusern des 17. Jahrhunderts erscheinen, ist schwer zu sagen. Möglicherweise war das eine „Marotte“ eines örtlichen Zimmermeisters oder Holzschnitzers, der einen Narwalzahn und/oder einen Kupferstich eines solchen Tieres gesehen hat und davon fasziniert war – das ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Eine tiefere symbolische Bedeutung würde ich diesen Narwalen, ebenso wie den häufig vorkommenden Drachen oder Delphinen, nicht beimessen – sie waren einfach dekorativ, exotisch und geheimnisvoll.“