Der dreigeschossige Stockwerkbau in Hann. Münden aus der Barockzeit wurde zwischen 1650 und 1680 erbaut, ein Rähmbau mit einzeln abgezimmerten Stockwerken und einem Zwerchhaus. Der Giebel des Eckhauses zeigt zur Tanzwerderstraße, das Zwerchhaus zur Straße Hinter der Stadtmauer.
Das Haus ist reich mit Muscheln auf den Balkenköpfen und 98 Narwalmotiven auf den Füllhölzern verziert. Ergänzt wird der Fassadenschmuck durch Stabprofil, Zahnschnittleisten und Eckständer als plastische Säulen. Die Haustüre stammt aus der Zeit zwischen 1800 bis 1850 (Mündener Haustüren, Tore und Portale von 1400 bis in die Gegenwart (Sydekum-Schriften zur Geschichte der Stadt Münden) S.51)
Größe, Lage und Ausschmückung des Gebäudes lassen auf einen reichen Erbauer schließen.
Warum der Name Narwalhaus?
Das Fachwerk des Hauses ist mit außergewöhnlich vielen (98 Stück) geschwungenen Motiven verziert. Bei näherem Hinschauen erkennt man sie als Narwale.
Was ist ein Narwal?
„Der Narwal ist eine Art der Zahnwale. Zusammen mit dem nahe verwandten Weißwal bildet er die Familie der Gründelwale. Das hervorstechende Merkmal der Männchen ist ihr Stoßzahn. Es handelt sich dabei um einen Eckzahn des Oberkiefers, der schraubenförmig gegen den Uhrzeigersinn gewunden die Oberlippe durchbricht und bis zu drei Meter lang und acht bis zehn Kilogramm schwer werden kann. Narwale sind im gesamten Arktischen Ozean verbreitet und halten sich stets in der Nähe des Packeises auf. Am häufigsten treten die Wale rund um Grönland, in der Baffin Bay, der Hudson Bay und entlang der Küste Sibiriens auf.“ (Quelle: Wikipedia)
Warum Narwalmotive in Hann. Münden?
Es gibt verschiedene Theorien, warum in Hann. Münden, 300 km vom Meer entfernt, Narwalmotive viele Fachwerkhäuser schmücken.
Das Narwalhaus wurde nach dem 30jährigen Krieg (1618-1648) erbaut, der mit sehr vielen wirtschaftlichen und sozialen Verheerungen einherging. Diese Epoche der Spätrenaissance war eine Phase des Umbruchs vom Mittelalter in die Neuzeit mit ihren innovativen Wissenschaften. Den Naturwissenschaften kam immer mehr Bedeutung gegenüber der Religion zu.
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurde das Nordpolarmeer durch Willem Barents erforscht, dem Lebensraum des Narwals.
Es gab wohl viel Bedarf an Neubauten. Hauseigentümer ließen ihre Fachwerkhäuser aufwändig verzieren, um ihren sozialen Rang und ihren Reichtum darzustellen oder um den Berufsstand zu repräsentieren.
Manche Motive besaßen eine eigene Symbolik, wie z.B. das Einhorn, das auch im Mündener Fachwerk vorkommt.
Den Narwal gibt es als Motiv im Fachwerk bislang offensichtlich nur an Häusern in Hann. Münden, Hardegsen und Beverungen zu entdecken. Also in einem sehr eng begrenzten Gebiet.
Sein Zahn galt seit dem Mittelalter als Stirnwaffe des fabulösen Einhorns. Solange die Herkunft der gedrehten Zahnstangen unbekannt war, wurde dieses „Ainkhürn“ mit Gold aufgewogen.
Einhorn: Symbol der Unschuld Mariens
„Das Horn des angeblichen Einhorns galt im Mittelalter als Reliquie (Symbol der Unschuld Mariens) und in pulverisierter Form als Heilmittel, das in Apotheken verkauft wurde (ein ähnlicher Missbrauch wird bis heute mit Hörnern von Nashörnern getrieben). Narwal-Stoßzähne fanden ihren Weg als angebliche Einhorn-Hörner in einzelne Kirchen, vor allem aber in die Kunst- und Wunderkammern der Herrschenden und später auch in Apotheken und bürgerliche Kuriositätensammlungen – als seltenes und teures Handelsgut von Seefahrern und Walfängern.“ (Dr. Heinrich Stiewe)
Narwal: Symbol des Reichtums
Weitere Erklärungsmöglichkeiten lassen sich aus einem Vortrag der Kunsthistorikerin Dr. Karin Gille-Linne und der Architektin Sandra Juwig ziehen mit dem vielsagenden Titel: „Wie der Narwal nach Hann.Münden kam“. Aber auch sie fanden keine stichhaltigen Beweise:
„Narwalzähne wurden international seit Hunderten von Jahren gehandelt. Sie waren äußerst selten und daher sehr wertvoll. Bis zum späten 15. Jahrhundert sollen in Europa nur 20 ganze Zähne bekannt gewesen sein. Das sagenhafte Horn des Einhorns war so wertvoll, dass Königin Elisabeth 1. von England im 16. Jahrhundert 10.000 Pfund für eines gezahlt hat – so viel, wie für ein ganzes Schloss. Es gab Szepter aus Narwalzahn (England, Österreich…), Bischöfsstäbe und in Dänemark wurde sogar ein königlicher Krönungsstuhl aus Narwalzähnen gestaltet.“
Narwal: als Schutzsymbol
„Der Wal hat in der Seefahrt eine besondere Stellung. Der große und mächtige Walfisch war bedrohlich, aber zugleich war er auch ein Schutzsymbol. Auf hoher See bot er Schutz vor Sturm und Unwettern. In Münden, einer Stadt mit drei angrenzenden Flüssen, waren Unwetter gefürchtet. Die Gefahr des Hochwassers war schließlich allgegenwärtig. Wurde der Narwal also als der mächtige, magische Walfisch angesehen, der die Häuser vor Unwettern und Hochwasser schützen konnte? Hatte er die Macht über das Element Wasser?
Oder gibt es noch andere Erklärungen? Denn das Wasser war ja nicht nur eine Gefahr, sondern gleichzeitig auch der wichtigste Verbündete gegen ein anderes gefährliches Element: das Feuer. Und der Wal, als Gewittertier, konnte sowohl Unheil bringen, als auch vor Blitz und Donner schützen. Die Angst vor Feuer war in dieser Fachwerkstadt mindestens so gegenwärtig wie die Angst vor dem Hochwasser. Das brachte uns auf die Idee, dass der Narwal die Häuser vor Feuer schützen sollte.“
Narwal: nur eine Marotte von Zimmerern?
„Der Narwal und das Meereseinhorn tauchen in Hann. Münden an 17 erhaltenen Fachwerkhäusern auf – allein oder in Kombination mit anderen Motiven. Es gibt 3 Häuser ohne Narwale, die aber mit ihren Walen, Drachen und Seeschlangen in die gleiche Motivfamilie gehören. Dazu gibt es 5 Häuser mit Ornamenten, die an S-förmige oder verschlungene Tierkörper erinnern. Alles in allem sind das 25 Häuser im heutigen Hann. Münden, an denen sich Narwale oder Wale tummeln – oder walähnliche Ornamente. Diese 25 erhaltenen Häuser sind – soweit das nachvollziehbar ist – in einer Periode von etwa 20 Jahren entstanden, etwa von 1655 bis 1675.“
„Die Mündener Meereseinhörner von 1655 scheinen die frühesten zu sein. Nach 1675 ist wiederum aus Münden kein Haus mit Narwalschnitzerei erhalten. Dafür taucht der Narwal nun in Hardegsen auf, ab 1679, gibt es eine Vielzahl von Häusern, die mehr oder weniger deutlich das Motiv weiterführen.“
„1678, gut 20 Jahre nachdem in Münden der erste Narwal geschnitzt wurde, gab es in Hardegsen ein dramatisches Ereignis. Ein Brand brach aus und zerstörte 1678 fast alle Fachwerkhäuser der Stadt. Als das Feuer verloschen war, begann unverzüglich der Wiederaufbau der Stadt. Und das hieß: es gab viel Arbeit für die Zimmerleute und Schnittker (Zimmerleute, die sich auf das Schnitzen von Schmuckformen spezialisiert haben) aus der nahen und fernen Umgebung. Auch die Schnittker von Hann. Münden zogen wohl nach Hardegsen, um dort zu arbeiten. Nach 1678 wurde in Münden kein einziges Haus mehr mit Narwalschnitzereien erbaut.
Dieses Motiv verschwand aus Münden, aber die Schnittker nahmen es mit nach Hardegsen und brachten es an vielen Fassaden in Hardegsen an.“
Volkskundler und Bauhistoriker Dr. Heinrich Stiewe: „Warum gerade in Hann. Münden und anderen südniedersächsischen Städten neben anderen Fabeltieren auch stilisierte Narwale an Fachwerkhäusern des 17. Jahrhunderts erscheinen, ist schwer zu sagen. Möglicherweise war das eine „Marotte“ eines örtlichen Zimmermeisters oder Holzschnitzers, der einen Narwalzahn und/oder einen Kupferstich eines solchen Tieres gesehen hat und davon fasziniert war – das ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Eine tiefere symbolische Bedeutung würde ich diesen Narwalen, ebenso wie den häufig vorkommenden Drachen oder Delphinen, nicht beimessen – sie waren einfach dekorativ, exotisch und geheimnisvoll.“
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